Dichterlesung

Am Samstagabend legte sie ihr Kostüm zurecht. Nach einiger Überlegung hatte sie sich für das rosafarbene mit dem kurzen Rock entschieden.

»Colour me beautiful«, dachte sie, als sie das graue lange Kleid wieder in den Schrank hängte. Nein, sie war keine graue Maus. Auch wenn ihr klar war, dass sie auf den ersten Blick eher unscheinbar wirkte. Sie hatte, was ihr keiner nehmen konnte. Sie schrieb Gedichte.

Deshalb saß sie jetzt hier, in der alten Wassermühle. Hinter Plexiglasscheiben drehten sich gewaltige Räder, scheinbar geräuschlos. Nicht ganz. Sie gaben ein monotones Surren von sich, das hörte im Augenblick aber niemand. Ein Trupp Pfadfinder streunte durch die Räume. Zwei Ehepaare mittleren Alters, die wohl miteinander bekannt waren, tranken Kaffee, unterhielten sich. Mutter und Tochter hatten sich einen Platz am nächsten Tisch gesucht. Einige Damen, die bestimmt den letzten Krieg noch erlebt hatten, nahmen schnaufend Platz.

Sie saß am Tisch, direkt neben der Glaswand, die großen Räder machten ihr Angst. Wenn es in Filmen – und sie liebte Krimis – Szenen mit Schlägereien in der Nähe von drehenden Teilen gibt, Walzen, Uhrwerken in Kirchtürmen, am schlimmsten Transmissionsriemen – schließt sie heute noch die Augen.

Jetzt tasten ihre Finger vorsichtig nach der Glasscheibe. Kühl. Glatt. In ihr zieht sich etwas zusammen. Schnell die Hand wieder auf die Tischplatte legen. Unter der anderen Hand wellt sich allmählich das Papier. Das Büchlein. Ihr Buch. Ihr zweiter Lyrikband. Ja natürlich, es ist nicht richtig gedruckt, aber so gut kopiert, dass es fast wie gedruckt aussieht. Der Umschlag ist aus farbigem Papier. Sonnenblumengelb. Beate Kordan. Die Schmerzen der Steine. Wiesenmuth Verlag. Dazu ein Scherenschnitt von Frau Wiesenmuth, auch sie eine Künstlerin auf ihrem Gebiet.

Da kommt auch schon Herr Wiesenmuth die schmale Holztreppe herab und nickt beruhigend, oben sei alles vorbereitet. Fünfzig Stühle könne man getrost bereitstellen, hatte er gestern noch der Wirtin versichert. Lajos war wohl schon oben und stimmte seine Gitarre. Annette rückt etwas näher zu ihr, zu nahe, findet sie, als sich Herr Wiesenmuth zu ihnen auf die Bank setzt. Annette bewahrte ihre Gedichte und die beiden Essays – so etwas würde sie nie schreiben, wo bleibt denn da die Achtung vor der Sprache – in einer schwarzen Mappe auf, Format A4. Ihre Gedichte waren aber auch so schrecklich lang. In Annettes richtigem Buch, das wie alle Wiesenmuth-Bücher die Größe eines Oktavheftes hatte, ging eins sogar über acht Seiten. An manchen Stellen klang es wie von Wilhelm Busch. Aber das würde sie Annette natürlich nicht sagen.

Einen orangefarbenen Umschlag hatte Herr Wiesenmuth dafür ausgesucht. Und ein orangefarbenes Tuch trägt Annette heute. Beate weiß, dass das zarte Rosa ihres Kostüms dagegen verblasst. Aber zu einem kräftigen Rot, das wusste sie inzwischen auch, würde sie sich wohl nie entschließen können. Zu frivol.

Herr Wiesenmuth schreibt noch etwas in seine schwarze Kladde, vielleicht einen neuen Aphorismus. Oder er rechnet die Tageseinnahmen gegen die Saalmiete auf, sieht nicht gut aus im Moment. Zwölf Leute. Eine Frau, eine von den beiden Ehepaaren, die auch die Wirtin zu kennen schienen, schlug gerade vor, man solle doch hier unten bleiben. Herr Wiesenmuth stimmt zu. Es sei doch viel netter hier, intimer gewissermaßen. Neben ihr dreht sich das Mühlrad. Lajos kommt einige Stufen der Treppe herunter, ein schöner Mann.

»Kommt ihr?«

»Wir wollen hierbleiben. Oben ist es so deprimierend.«

Sie wusste noch nicht, ob sie auch das Gedicht lesen sollte, das sie nach der Begegnung mit Jakob geschrieben hatte. Eine verpasste Gelegenheit. Es war doch eigentlich nur für ihn. Ob andere Frauen, und hier waren doch fast nur Frauen, das Besondere ihrer Gefühle verstehen konnten? Oder würden sie sich die Brocken, die sie verstanden, einverleiben, verschlingen und in der fürs Ende angekündigten Diskussion halbverdaut wieder hervorbringen?

»Dieses Gedicht hat mich besonders angesprochen. Ich hatte da mal genauso ein Erlebnis.« Sie wünschte sich in ihr graues Kleid. Wenn sie hier unten bleiben, wird niemand ihre Beine sehen. Die Männer beginnen nicht zu träumen, die Frauen wird der Neid nicht von ihren Versen ablenken.

Lajos stutzt: »Hier wollt ihr bleiben? Aber die Räder brummen doch. Das wird uns stören.« Was für ein sensibler Mann. Nach einigem Hin und Her erheben sich die Zuhörer, bringen ihre Kaffeetassen und die Teller, von denen sie Toasts gegessen hatten, zur Theke. Gott sei Dank, niemand wird eine Wasserflasche umstoßen, während sie liest. Und Grippezeit ist auch nicht. Vor ihr, hinter ihr auf der Treppe Gelächter. Gesprächsfetzen dringen in ihren Kopf. Dummes Geplapper. Man muss doch still sein für Lyrik.

Nun sitzen sie also oben. Der Sonntag drängt durch die Scheiben. Entfernt singen die Pfadfinder. Gewiss, Spaziergängerwetter. Bei Regen wäre es voller geworden. So wie sie jetzt sitzen, schaut sie genau auf die Glasfront, die auch im Obergeschoss die Menschen von der Mühle trennt. Eine riesige Welle dreht sich, an ihr ein mannshohes Rad. Ein anderes, senkrecht darauf gestellt, wird von ihr angetrieben. Welche Kräfte.

Beinah beneidet sie jetzt Herrn Wiesenmuth um seine Kladde. Sie hat keinen Stift. Nur ihr Buch. Wiesenmuth hat seine Hände vors Gesicht gelegt, er sammelt sich. Endlich wird es ruhig.

»Können wir anfangen?« fragt Lajos, der seine Gitarre schon im Schoß hält.

»Möchten Sie beginnen?« fragt Wiesenmuth.

Sie schüttelt behutsam den Kopf, lässt den Blick nicht von ihren Händen. Auch Annette wehrt ab. Nein, nein.

»Ist doch egal«, sagt sie, zu Lajos gewandt.

»Ist es nicht«, erwidert der.

Gern hätte sie begonnen, einerseits. Andererseits passen ihre zerbrechlichen Gedichte nicht zwischen diesen etwas politischen Text von Herrn Wiesenmuth und die aufgeregten Zeilen Annettes. Die sowieso viel besser vortragen kann. So selbstsicher. Soviel hat sie schon gelernt. Wenn drei vortragen, haben der erste und letzte die größte Aufmerksamkeit, als zweite wird sie verschluckt werden, sang- und klanglos untergehen. Nun räuspert sich Herr Wiesenmuth doch. Die Beine hat er übereinander geschlagen, die Hände im Schoß gefaltet. Zwischen dem Ende seiner hellgrauen Socken und dem Hosenaufschlag sieht man seine Beine. Sie kann den Blick nicht weiter heben als bis zur Kniehöhe der ersten Zuhörer. Auch hier ist das Mühlrad zu hören. Was Herr Wiesenmuth sagt – es ist nicht viel – vorstellen werden sie sich später – hört sie nicht.

Jetzt ist Lajos dran. Flamenco soll er spielen oder so etwas Ähnliches. Darin ist er Meister. Aber er spielt nicht, sondern erzählt. Von seiner Musik und ihren Ursprüngen, von den Geheimnissen seiner Gitarre. Dabei streicht seine Hand über die sanfte Wölbung seines Instrumentes. Als wärs ein Frauenleib. Wiesenmuth räuspert sich. Lajos spielt. Tastendes Aufschauen in die Gesichter vor ihr, kein Blickkontakt, Lajos hat sie wieder alle gefangen. Annette sortiert ihre Texte, legt den Essay an das Ende des Stapels, den sie wohl vor der Pause lesen will. Herr Wiesenmuth liest in seinem Text, greift auf einmal nach seinem Stift im Jackett, streicht, ändert. Dabei ist doch alles schon gedruckt. Unruhig rutscht sie auf dem Stuhl hin und her. Applaus. Lajos scheint fertig zu sein.

Ohne dass sie sich vorher geeinigt hätten, greift jetzt Wiesenmuth nach seinem Buch. Er liest nicht aus dem Oktavheft mit dem blauen Einband, sondern aus der Kladde. Die Geschichte von der alten Eiche, die alles schon überdauert hat und nun stirbt, weil die Autos keine Katalysatoren haben. Bei dem Wort Katalysatoren kommt er etwas ins Stolpern. Aber hinterher weist er, wie stets, darauf hin, dass er diese Geschichte schon vor zwanzig Jahren geschrieben hat, als noch niemand, niemand, von Katalysatoren sprach. Danach schrieb er nur noch Aphorismen. Das erwähnt er nicht.

Annette nickt zu ihr herüber. Nun muss sie doch als zweite lesen. Das Herz schlägt, in den Ohren dröhnt das Rad. Sehen die Zuhörerinnen, dass ihre Hände zittern? Mit äußerster Anstrengung schafft sie es, die Beine übereinander zu schlagen. Sie weiß, was jetzt in den Köpfen vor ihr abläuft. Das ist gut. Genau hinsehen und gleichzeitig kritisch hören, das schaffen nur wenige. Sie ist in Deckung.

Wenn sie nicht so laut spricht, reicht der Atem fast für ein ganzes Gedicht. Eins nach dem anderen liest sie. Die Stimme zittert kaum. So ging das nun: Erst waren aus ihren Gedanken Gedichte geworden. Beim Vorlesen wurden sie nur zu einfachen Sätzen, zu Wörtern – die sich von ihr, von allem, was mit ihr zu tun hatte, entfernten, wenn sie sie in den Raum entließ.

Annette und Wiesenmuth rückten währenddessen etwas zusammen. Ihre Stühle knarrten. Die beiden flüsterten. Im Publikum blieb es still. Konzentration oder teilnahmslose Starre? Egal, lesen, atmen, lesen. Am Rande ihres Sehfeldes das drehende Rad.

»Langsamer«, zischelt Annette zu ihr herüber.

Alle haben es gehört. Sie lehnt sich zurück. Jetzt Jakobs Gedicht. Die Stimme bleibt flach. Emotionslos verliest sie die Zeilen. Hört den Klang der Silben. Könnte sie jetzt stärker betonen, die Pausen dehnen, käme sie vielleicht stärker ins Schwingen. Das gibt ihre Stimme nicht her. Zum Glück, denn es führte gefährlich an den Rand der Tränen. Körperbeherrschung. Einfach nur überleben, ohne aus der Rolle zu fallen. Geschafft.

Neben ihr rückt Annette ihren Stuhl zurecht, streicht sich durchs Haar, erwidert die Blicke ihres Publikums bevor sie, zugegebenermaßen recht routiniert, ihren Vortrag beginnt. Annette habe eine sehr charmante Art, hatte sie Wiesenmuth einmal sagen hören. Nun ja. Ihre Gabe war das eben nicht. Als Folge der vormittäglichen Aufregung fiel sie jetzt beinahe in Lethargie. Das Gefühl für die Zeit verließ sie. Zur Vorstellungs-Runde raffte sie sich noch einmal auf, nur ein bisschen.

»Aus ökologischer Sicht gibt es zu mir nicht viel zu sagen«, war ihre Reaktion, nachdem ihre beiden Gefährten mehr über ihr Engagement auf diesem und jenem anerkannt sozialen Gebiet verrieten, als über ihre Schreib-Arbeit. Sie sei Buchhalterin und schreibe nur so nebenbei. Vergaß diesmal auch nicht zu erwähnen, wie dankbar sie Wiesenmuth sei, dass er ihr ermöglicht habe, sich hier vorzustellen.

Pause. Die Besucher strömten, würde man wohl sagen – ob zwölf Menschen ausreichen, einen Strom zu erzeugen? – wieder nach unten an die Theke, um sich an Kaffee und kleinen Broten zu laben. Um sich zu stärken für das, was da noch kam. Oder um etwas in sich aufzunehmen, damit sie verdrängten, was sie in der letzten Stunde aufgenommen hatten? Beate kann jetzt keinen Kaffee trinken. Sie würde zittern, kleckern, sich blamieren.

»Was für ein schöner Tag«, sagt sie zu Annette und verlässt die Mühle.

Sie hat nicht gelogen. Die Sonne scheint auf herbstliches Laub, der See vor der Mühle, natürlich, es ist ja schließlich eine Wassermühle, wellt und kräuselt sich, wie man es sich schöner nicht wünschen könnte. Kleine Jungen werfen Steine ins Wasser, Väter trinken Bier, Mütter und Großmütter essen Kuchen zum Kaffee. Sie geht die wenigen Schritte durch den Garten. Einen schmalen Weg am See entlang. Findet eine freie Bank. Wischt mit der Hand darüber. Rosa Kostüm, schließlich. Lässt sich fallen, schließt die Augen und hält ihr Gesicht in die Sonne. Da hört sie wieder das Singen der Pfadfinder. Vielleicht ist das ja der letzte warme Tag in diesem Jahr...

Copyright © 2007 Dani Linde