Erstarren

Die Kälte legt sich über das Land und so, wie sie zunächst eine Haut auf den Fluss legte und ihn dann so ganz allmählich, Tag für Tag ein bisschen mehr, eroberte, die Eisschicht wuchs und am Ende von seiner Bewegung nichts blieb als ein langes graues Erstarren in der Landschaft, so hatte sich die Kälte auch auf ihr Leben gelegt. Und sie wusste nicht mehr, dass es Glück und Schmerz, Lachen und am Ende eine große Trauer für sie gegeben hatte.

Gewiss, Leben war noch in ihr, die notwendigen Funktionen, aber mehr auch nicht, keine Schwingung zuviel. Da war keine Bewegung, die nicht einem Zweck diente. Nur das Gehirn machte mitunter noch eine Ausnahme. Hin und wieder wischten Gedanken durch das dumpfe Grau. Einmal sah sie eine Häuserzeile vor sich, in einer langen Straße, Kopfsteinpflaster, mehrstöckige Häuser mit großen Türen und hohen Fenstern, die oben von einer Zierleiste begrenzt wurden. Hier und da ein kleiner Balkon. Dort hatte sie vor Jahren, Jahrzehnten vielleicht, mal eine Bekannte besucht. Oder es war ein Haus, in dem sie saubermachte. Sie versuchte für einen Augenblick, sich den Treppenaufgang vorzustellen, doch da verschwand das Bild schon wieder, löste sich im weiten Grau.

Heute war ihr dann ganz unvermittelt das Bild eines jungen Mannes erschienen, mit hellen grünen Augen, und es brauchte eine Weile, bis ihr klar wurde, dass dies Herrmanns Augen waren. Ihr Mann, zu einer Zeit, in der sie ihn manchmal »mein Ritter« genannt hatte und er »Prinzessin« zu ihr sagte. Das war nicht von Dauer, viel gezankt hat er später mit ihr, und sie hatte schon lange nicht mehr daran gedacht. Aber jetzt bleibt sie doch noch für einen Moment auf dem Sofa sitzen, ihre Finger streichen über den Stoff, fühlen die abgewetzten Stellen, und sie wiegt den Oberkörper hin und her wie ein kleines Kind.

Ihr ist kalt, das spürt sie noch, und ächzend drückt sie sich aus dem Polster. Sie müsste heute die Wohnung nicht verlassen. Die Fertiggerichte, den Zwieback und Kräutertee hat der Pfleger, der einmal in der Woche kommt, mitgebracht. Sie braucht nicht viel, seit sie allein ist. Allein. Schon seit so vielen Jahren. Das hatte sie sich so nicht vorgestellt, aber das würde sie so auch nicht sagen, weil sie es nicht mehr denkt. Grau ist es im Hirn und kalt im Herzen. Sie hat den Pfleger mal nach dem Sterben gefragt, da hat er beim nächsten Mal aus einem Buch vorgelesen:

Wenn sich die Seele vom Körper trennt, geschieht das 48 Stunden nach dem Tod. Bei manchen Menschen später.

Aber es sind auch Fälle beschrieben, in denen sich große Teile schon vor dem Tod verabschiedeten, hat er gesagt.

Uhren ticken nicht mehr in ihrer Wohnung, wozu. An der Zeitung erkennt sie den Wochentag; gibt es eine, ist es nicht Sonntag. Sie liest sie nicht, sie stapelt sie in der Küche neben der Spüle, der Pfleger nimmt sie manchmal dort weg. Sie könnte sie abbestellen, aber auch dieser Gedanke kam ihr nicht. Sie wüsste auch gar nicht, an wen man sich da wenden muss. Vielleicht eines Tages, wenn ihr Geld aufgebraucht sein wird, hört man auf, ihr jeden Morgen das Blatt vor die Tür zu legen.

Aber heute ist etwas anders in ihr. Sie hat wieder an Herrmann gedacht. Sie kennt den Weg zum Friedhof noch, auch wenn sie ihn sehr lange nicht mehr gegangen ist. Bestimmt wird sie ihn finden. Gab es einen Grabstein? Fast gelingt es ihr, sich zu erinnern, doch dann überschwemmt wieder ein weiches Grau ihr Denken. Langsam gelangt sie in den kleinen Flur, bückt sich nach den Schuhen, schlurft in die Küche und lässt sich auf den Stuhl fallen. Sie braucht lange, bis sie die Schuhe an den Füßen hat, doch das spielt keine Rolle, sie merkt es nicht einmal. Gewiss, es gab eine Zeit, da wurde sie ungeduldig, damals, als ihre kleine Tochter nicht mit dem Anziehen fertig wurde, erst mit den Strumpfhosen, dann mit den Schuhen. Manchmal rutschte ihr die Hand aus, sie schimpfte und zerrte. Und in den Jahren, als unter der Eisschicht der Fluss sich noch sacht bewegte, tat es ihr leid und tat es ihr weh.

Als sie nach dem Mantel greift, zieht ein Schmerz die Wirbelsäule entlang, ein Stich, von unten nach oben. Sie zuckt, streckt sich – so eine schnelle Bewegung gab es lange nicht mehr in ihrem Leben, ein Riss tut sich auf im Eis, da wird ihr schwindlig, noch kann sie sich mit der linken Hand an der Wand abstützen, dann krümmt sie sich auf den Dielen.

Während des Zwischenstadiums der Todesaugenblicke erscheint das klare helle Licht.

Das sieht sie jetzt nicht, dort war sie schon vor Jahren, als der Lastwagen auf sie zuraste und ihr Mann und Kind nahm. Jetzt ist da keine Helle, jetzt verdichtet sich das Grau. Sie wimmert, leise nur.

Nach einer Stunde kann sie den Arm ganz langsam wieder ausstrecken, zieht sich den Mantel unter den Kopf, zieht die Beine an den Körper. So ist es besser, so kann sie es aushalten. Aus dem Küchenfenster schwindet allmählich der letzte Tagesschein. Ein Nagel aus den Dielen drückt sich in ihre Seite. Die Ruhe kehrt ihr zurück. Die Zellen schwingen langsamer, das Eis wird wieder dichter.

Nach mehr als einer Mahlzeitenperiode erscheint das sekundäre (sofort nach dem Tode gesehene) Licht.

Kein Licht erscheint, mit der Dämmerung schwindet auch die Wärme aus den Räumen. Sie fröstelt, beginnt zu zittern, spürt den Schmerz im Rücken, in der Brust und dort, wo der Nagel sich in ihre Seite bohrt, ganz klar.

Die dritte Stufe beginnt mit dem Erscheinen der karmischen Schemen. Zu dieser Zeit kann der Verstorbene alles Weinen und Wehklagen seiner Freunde und Verwandten hören, und obgleich er sie sehen und hören kann, können sie sein Rufen nach ihnen nicht hören, weshalb er unzufrieden weggeht. Zu dieser Zeit erlebt man Klänge, Licht und Strahlen – alle drei.

Es gelingt ihr, den Mantel unter ihrem Kopf wieder hervorzuziehen und sich über die Seite zu breiten. Dabei rückt sie ein winziges Stück in Richtung der Wohnungstür. Der Nagel drückt sich jetzt in ihre Hüfte, aber es wird einige Zeit dauern, bis es wieder so weh tut wie eben.

Wenn es ihr gelänge, ganz nah an die Tür zu kommen, könnte sie sich vielleicht bemerkbar machen. Rufen kann sie nicht. Zu lange ist es her, dass ein lautes Wort über ihre Lippen kam. Schritte hört sie auf der Treppe, der Mensch, der über ihr wohnt, kommt heim, sie hört die Flaschen scheppern. Mit etwas Anstrengung käme sie an die Tür, könnte vielleicht klopfen. Doch was erwartet sie dann?

Nun ist es beinah völlig finster, Kälte von außen und innen begegnen sich, Eis wird.

Vor dem Fenster hellt der Tag auf, später dunkelt eine neue Nacht, noch einmal und noch einmal, die Unterschiede nimmt sie kaum noch wahr. Ihr eigenes Stöhnen, in immer größeren Abständen, ist das Einzige, das sie für Momente aus dem Dahindämmern reißt.

Doch allmählich überkommt sie eine große Ruhe. Die letzten Schwingungen werden schwächer, versickern eine nach der anderen im Nichts. Das Eis ist überall.

Wer bis jetzt noch nicht gegangen ist, dem dämmern nun die zornigen Gottheiten.

Copyright © 2007 Dani Linde