Ihr guten Götter

Ihr guten Götter, breitet den Mantel des Schweigens über diese Geschichte, aber ein bisschen schnell und gründlich, wenn ich bitten darf.

Was hat mich getrieben, diesen Job zu übernehmen? Seit Wochen saß ich still in der morgendlichen Redaktionskonferenz, kämpfte mit dem Zittern in der Stimme, wenn ich mal zu Wort kam, und war, ehrlich gesagt, manchmal ganz dankbar, wenn einer meiner Kollegen mir dazwischen redete. Sie hatten mich eingelassen in ihren Männerorden, und ich hatte mich ganz artig benommen. Mich um den Serviceteil gekümmert in unserem Blatt, um die Leserbriefe und das Preisausschreiben, und in der Raucherküche gelegentlich Kommentare abgegeben, die dann am nächsten Montagmorgen eines meiner Mitraucher dem Verleger als seine tolle Idee verkaufte.

Und plötzlich hörte ich mich sagen: »Ja, zu dem Gerichtstermin würde ich gern selbst fahren.«

Schließlich hatte ich ja die Informationen darüber herangeschafft. Die ungläubigen Blicke perlten an mir ab, denn ich weiß, was ich kann, ein Jahr lang habe ich mich in dieser Redaktion hier unter Wert verkauft, immer im Glauben, es sei auch den anderen klar, dass ich meine Selbstständigkeit als Journalistin nur aufgegeben hatte, um meinem Kind ein halbwegs geordnetes Leben zu sichern, ein bisschen Verlässlichkeit. Aber das war niemandem klar, sie brauchten ein Mädchen für alles, der Rest war egal. Mit diesem ersten richtigen Auftrag wollte ich das ändern.

Aber was hat mich getrieben, zu laufen, statt ein Taxi zu nehmen? Na – sehen will ich was von den Orten, an die ich fahre. Diesen kleinen Luxus habe ich schon früher kultiviert. Nie wollte ich in das Klagen jener Getriebenen einstimmen, die geschäftlich nach Brüssel oder Barcelona abreisten und wenn sie von dort zurückkamen, nichts gesehen hatten außer dem Flughafen und dem klimatisierten Konferenzraum. Und es war ja noch eine halbe Stunde Zeit, es regnete nicht, und ich bewege mich gern. Von der Fototasche abgesehen, hab ich auch kein Gepäck und nach allem, was ich über die Anordnung von Kirche, Bahnhof und Gericht in deutschen Kleinstädten weiß, müsste eine halbe Stunde ausreichen.

Ein Blick auf den Stadtplan am Bahnhof bestätigt meine Schätzung, ich rechne inzwischen nur noch mit zwanzig Minuten Fußweg. Aber in Dobelstadt ist westfälischer Weihnachtsmarkt, der ist auf dem Stadtplan nicht verzeichnet, die Straßen sind voll, mein Weg schlängelt sich zwischen Lebkuchenbuden, Souvenirständen, aufgehäuftem Tannengrün, Grüppchen von Eingeborenen.

Zu allem Überfluss entfalten Touristen auch noch quadratmetergroße Stadtpläne, diskutieren raumgreifend die nächsten Schritte, statt am Straßenrand andachtsvoll vor der steineren Historie zu verharren. Kein Kommentar zu den studentischen Radfahrern. Eigentlich wollte ich einfach nur geradeaus gehen, aber im erzwungenen Schlenkern folge ich einer Biegung, die mich von meinem Ziel entfernt. Das ahne ich noch nicht, denn im Augenblick baut sich in meinem Kopf schon der erste Satz für meinen Bericht – schließlich werde ich ja dafür bezahlt, dass ich hier immer schneller und gegen aufsteigende Hitze kämpfend durch die Provinz eile.

»Selbst hier, zwischen Westfälischem Frieden und dem Fest des Friedens ist immer noch Zeit für einen handfesten Streit ...«

Sinngemäß jedenfalls – da wissen die Leser doch gleich, dass hier jemand Augen und Ohren für sie aufsperrt, der noch was anderes im Kopf hat, als ein bisschen Juristerei. Das gibt Sympathiepunkte, bilde ich mir jedenfalls ein. Vielleicht werde ich ja im Laufe des Tages noch etwas sehen oder hören, das ein viel besseres Bild hergibt, aber fürs Erste freue ich mich: So ein schöner Anfang – das macht Mut.

Jetzt hab ich den Stadtkern hinter mir, aufsteigende Hitze in mir, am Ring frage ich doch lieber eine Frau nach der Richtung, so ganz ausschließlich will ich nicht meinem Instinkt folgen – schließlich bin ich im Dienst.

»Oh«, sagt sie mit großen Augen, »das ist aber weit.«

»Ja, ja«, wehre ich ab.

Mich interessiert nicht ihr verkümmertes Gefühl für Entfernungen – und recht hab ich, es sind kaum 15 Minuten und ich weigere mich, dies als weit anzusehen – die Richtung brauche ich. Die zeigt sie mir, der folge ich. Ganz kurz nach halb elf stehe ich vor dem Backsteingebäude. Mist, es hat zwei Eingänge. Es hat sogar vier, aber diese Entdeckung steht mir noch bevor. Also, nicht lange gezögert, wenn alles klappt, bin ich sogar noch pünktlich, gerade so. Nicht schlecht. Macht einen wichtigen Eindruck. Schließlich bin ich die Journalistin aus der Großstadt. An der Tür ein Schild Ausweise bereithalten, ich zottele mit einer Hand am Reißverschluss meiner Fototasche, mit der anderen drücke ich die Tür auf. Der Glaskasten dahinter ist leer, der Pförtner ausgeflogen. Zum Glück hat er wohl irgendeine Sicherung ausgeschaltet, denn auch die zweite Tür lässt sich relativ einfach aufdrücken.

Ha, was ist denn das für eine Schlampigkeit. Haben die hier drin denn gar keine Angst – nicht vor der Mutter, der man ihr Kind nicht zugesprochen hat oder vor dem Mann aus dem Senegal, dessen Aufenthaltserlaubnis sie nicht verlängern wollten? Na, zittert ihr denn gar nicht? Denn schon wären sie drin. Vielleicht mit einem Messer in der Tasche oder gar einem Revolver, und nichts würde sich zwischen euch und ihre Rache werfen. Glück für alle, hier komme nur ich, und ich komme ohne derlei Gelüste, nur froh, dass mich nichts von dem, was sich hier abspielt, wirklich betrifft. Ich bin weder Partei noch Zeugin und muss auch nicht richten. Nur zum Schauen bin ich hier, und das Gesehene und Gehörte so neutral wie möglich weiterzugeben. Die Rolle mag ich.

Zur großen Rächerin fehlte mir außer dem Motiv noch etwas ganz anderes: Der Ort der Handlung. Schlicht gesagt, ich finde den Verhandlungsraum nicht. Ich laufe an verschlossenen Türen vorbei, von meinem Informanten ist weit und breit nichts zu sehen. Ich kenne Markus Langmann ohnehin nur vom Telefon. Und es liegt schon mehrere Wochen zurück, dass er mir von der ganzen Geschichte und dem Verhandlungstermin erzählt hatte. Ich hatte vor zwei Tagen noch mal zurückgerufen: »Okay, ich komme.«

Immerhin gab es in der zehnjährigen Existenz des Fachblattes, für das ich arbeite, noch nie eine Live-aus-deutschen-Gerichten-Reportage. In dem Kasten auf Seite drei, über dem Aktuelles Urteil steht, ist von Vorfällen die Rede, die mehrere Jahre zurückliegen, die Vorschrift, auf die sich das Urteil bezieht, existiert mitunter gar nicht mehr oder wurde inzwischen wenigstens geändert. Es ist nicht zu glauben, wie viele Menschen in diesem Land davon leben, dass Vorschriften erlassen und dann möglichst oft wieder umgeschrieben werden.

Also ich hatte zugesagt, so könnte ich endlich mal ein bisschen Leben in diese trockene Materie bringen. Außerdem wollte mir Langmann hinterher noch den Betrieb zeigen, um den es in der Verhandlung – eine technische Panne oder menschliches Versagen oder Schluderei hatten Sachschaden in Millionenhöhe verursacht – gehen sollte. Wir wollten uns vor dem Gerichtsgebäude treffen, so sah unsere etwas vage Vereinbarung aus, und er würde mich auf jeden Fall anrufen, falls etwas dazwischen käme.

Gestern Nachmittag hatte mich das Gefühl beschlichen, dass es ganz nützlich sein könnte, vielleicht die Nummer des Verhandlungszimmers zu wissen oder das Aktenzeichen des Vorgangs zu kennen oder sich wenigstens auf die blöde Nelke im Knopfloch oder so was zu einigen für unser Blind Date. Doch da war er schon nicht mehr im Haus, sein Raumteiler wusste nichts Genaues, wünschte mir aber Glück. Das würde ich nun brauchen.

Ich stürmte zum Ausgang B wieder hinaus – wollte stürmen. Doch Vorsicht ihr Rächer, so leicht wie die Tat wird euch die Flucht nicht gemacht – aber im Gegensatz zu mir kennt ihr euch ja in diesem Gemäuer aus und wisst schon, dass im Boden vor der Tür ein Knopf eingelassen ist, den man mit einem Fuß tritt, während die Hände die rechte Flügeltür aufdrücken. Das erfordert etwas Konzentration, nichts für mich im Augenblick, denn meine Idee vom coolen Auftritt in letzter Minute verwandelt sich gerade in die Vorstellung einer quietschenden Tür, die ich mit angehaltenem Atem öffnen werde, das Blut wird mir in den Kopf schießen, während mir die Richterin einen bösen Blick zuwirft, wahrscheinlich werden Blitze aus ihren Augen zucken und Dielen werden knarren, während ich zu einem freien Platz schleiche. Wer je zu spät zur Schule gekommen ... Hoppla, hier bin ich wohl einem einem kulturellen Trauma aufgesessen, ich kann mich eigentlich gar nicht erinnern, dass ich je auf diese Weise einen Raum betreten hätte.

Egal, jedenfalls hat Ausgang B auch vor der zweiten Tür einen Fußtrittknopf, jetzt weiß ich ja, wie das geht: treten, drücken – nichts. Ach, hier lässt sich nur die linke Flügeltür öffnen. Wie raffiniert. Ob die hier wohl täglich die Kombination wechseln, in der die Türen aufgehen? Mein Mitleid mit den Rächern wächst.

Ich haste zu Eingang A. Da sitzt ein Pförtner, hinter einer Glasscheibe. Ich wüßte gern, ob sie kugelsicher ist, und ich wüsste gern, ob ich mit ihm sprechen kann, ohne auf einen Knopf zu drücken. Also frage ich als Erstes – es wäre ja albern, ich rede und er hört mich nicht:

»Kann ich so mit ihnen reden oder muss ich wo drücken?«

»Ja«, sagt er, ohne zu lächeln, und mir fällt auf, dass meine Fragetechnik etwas gelitten hat. Aber dies ist nicht der Moment für Feinheiten, mein Auftritt ist in Gefahr, ich will jetzt endlich wissen, wo Langmanns Verhandlung läuft, denn dass sie läuft, ohne mich, daran besteht kein Zweifel.

Ganz, ganz langsam nimmt der Mann hinter Glas die Liste der heutigen Verhandlungen, vier oder fünf Seiten, schiebt die Brille zurecht.

»Gegen wen wird verhandelt?«

Wie – gegen wen? Das ist mir doch egal, mich interessiert der Sachverhalt. Firma Vobal fällt mir gerade noch ein. Bedächtig beginnt er zu lesen. Auf der ersten Seite, ganz oben. Dort stehen bestimmt die Neunuhrtermine. Inzwischen ist es fünf vor zwölf, nicht bildlich, sondern wirklich.

»Die Verhandlung sollte 11 Uhr dreißig beginnen«, sage ich.

Warum sollte ich es nicht sagen, der Mann kann mich hören, ohne dass ich auf einen Knopf drücken muss und das Glas zwischen ihm und mir ist wahrscheinlich kugelsicher. Er findet nicht, was ich wissen will.

»Kein Termin gegen Firma Vobal.«

Gegen Langmann auch nicht. Das Trennglas muss kugelsicher sein.

Ich war so überzeugt, dass er gleich A 7 oder E 20 oder so was sagen würde, fassungslos starre ich ihn an. Ein Wunder geschieht. Mein Entsetzen durchdringt die kugelsichere Scheibe und erreicht diesen Mann.

»Gehen sie doch mal in Zimmer 270«, schlägt er vor und beginnt, mit umständlich den Weg zu beschreiben. Und das mir, die ich so stolz darauf bin, mir noch immer meinen Weg selbst gesucht zu haben. Meine Kollegen haben inzwischen gelernt, dass ich an Gesprächen über Abkürzungen und Schleichwege, Wege überhaupt, nicht sonderlich interessiert bin. Ich liebe das Ungewisse. Finde ich dann den Ort, an den ich wollte, wenn auch sicher nicht immer in der schnellstmöglichen Zeit, dann geht es mir gut. Und ich habe gelernt, die kleinen Umwege zu lieben, denn oft schon wurde, was ich ungewollt am Wegrand sah, irgendwann später ein Ziel für mich, das ich dann um so sicherer erreichte. Reisen bildet. Aber dies hier ist Ausnahmezustand, also hör ich zu. Die Stimme des Glasmannes klingt mit eigenartigem Hall: links, rechts, links – wäre jetzt der Augenblick für Humor, würde ich ihn fragen, ob das ein Strickmuster werden soll. Aber ich hab mich unter Kontrolle. Also links, rechts, links. Aufzug, zweite Etage, welch überraschende Nachricht, Zimmer 270 in der zweiten Etage, wer hätte das vermutet. Aber – nicht die Zeit für Humor und schon gar nicht ist jetzt die Zeit für Hochmut.

Auch kugelsicheres Glas spiegelt, zum ersten Mal seit längerem sehe ich mich, der Gang durch die Stadt hat mein naturkrauses Haar wunderbar belebt. Mein Pony sieht aus wie Spaghetti mit Dauerwellen. Ohne Soße. Auch das noch. Also werde ich mir auch noch einen Spiegel suchen müssen, bevor ich mich in den Verhandlungsraum schleiche, wenn ich ihn denn irgendwann finde. Ich könnte natürlich auch hier den Kamm ... und das kugelsichere Glas als Spiegel. Na, das lassen wir lieber. Also links, rechts, links. Im Gang eine größere Menschengruppe, ein bißchen wie kurz vor einem Familienfest. Gedämpftes Gemurmel. Für eine Hochzeit allerdings wären die Leute etwas zu dunkel gekleidet, für eine Beerdigung sind sie zu lebhaft, nun – es ist schließlich keins von beidem, warum sollte es so aussehen. Dies wird eine Verhandlung, und fast scheint es, als freuten sie sich drauf. Also bestimmt keine Scheidung. Dafür sind es auch zu viele. Ich bahne mir meinen Weg, da ist der Aufzug. Den Rücken zu den Leuten, zappel ich meinen Kamm aus der Tasche, ich weiß plötzlich, dass ich scheußlich aussehe, das erleichtert mir meine Situation nicht gerade. Also im Blindflug den widerspenstigen Pony ein wenig gegen den Strich gebürstet. Wahre Schönheit entsteht so nicht, aber mit etwas Glück bin ich nicht mehr ganz so entstellt wie eben.

Während ich so ganz still an mir arbeite und auf den Fahrstuhl warte, höre ich in dem Gemurmel hinter mir auch den Satz: »Und, hast du dann auch so eine Schulung besucht?«

Das ist natürlich recht allgemein, aber es könnte auch auf meinen Fall passen. Schließlich könnte es sein, dass das Unglück passierte, als jemand Dienst hatte, der nicht ausreichend für seinen Job qualifiziert war. Aber die Verhandlung müsste doch schon längst angefangen haben. Hätte ich jetzt meinen Kamm nicht in der Hand, würde ich mich einfach umdrehen, auf den, der mir am nächsten steht zugehen und ihn fragen. Lächeln, in die Augen schauen – das funktioniert immer, da hab ich keine Angst. Aber nicht mit dem Kamm in der Hand. Die Fahrstuhltür öffnet sich. Hinein, eins, zwei, Tür wieder auf. Die Türen auf dem Gang, den ich jetzt entlang marschiere, sind aufsteigend nummeriert. Die kleinste Zahl ist 274. Ich suche 270.

Nachdem ich den Gang dreimal auf- und abgelaufen bin, klopfe ich an Zimmer 284, vielleicht hat sich der Hinterglasmann ja geirrt. An allen Wänden Regale und ein Traumallerschwiegermütter-Jungbeamter, frisch geföhnt, hinter einem Uraltschreibtisch. Ich schaue in seine sommerhimmelblauen Augen, trage mein Anliegen vor, versuche dabei ironisch zu lächeln und er greift nach einer Liste. Zumindest schickt er mich nicht weg. Aber diese Liste ist bestimmt die gleiche, die bereits der Pförtner so sorgfältig rezipiert hatte. Soll ich ihm das sagen? Mein Mund bleibt verschlossen, fasziniert schaue ich ihm zu, auch er studiert sorgsam Zeile für Zeile, und auch er schüttelt den Kopf. Wissen die denn hier gar nicht Bescheid? Man ist ja allerlei gewöhnt inzwischen, aber an einem Gericht?

Er greift zum Telefonhörer und wählt. Die Wählscheibe knurrt leise beim Zurückdrehen. Jawohl, Wählscheibe. So sind die hier drauf. Der Bremsmechanismus an der Eingangstür wird wahrscheinlich auch durch einen Hamster im Laufrad betätigt. Und der Knabe mit der Föhnwelle gehört bestimmt nicht hierher. Warum sehen eigentlich meine Reportageobjekte nie so knackig aus? Wird der hier auch mal so grau und schwammig wie die Leute, mit denen ich zu tun habe? Wahrscheinlich nicht, denn bevor er meine Frage ans andere Ende der Leitung weitergibt, fragt er erst mal in den Hörer, warum sein Gesprächspartner denn gestern nicht im Studio gewesen sei, das neue Trainingsprogramm sei ja echt gut und bla und bla und immer so weiter. Und ich stehe da und höre mir das alles an, fange wieder an zu schwitzen in meiner Jacke und kämpfe gegen den Impuls, in Großstadtjournalistenmanier auf den Tisch zu hauen oder hoch erhobenen Hauptes den Raum zu verlassen. Aber mein erster Außentermin seit langem, die Häme der Kollegen – ich muss da jetzt durch. Schüchternes Räuspern, er blickt auf.

»Ach ja du, ich hab hier eine Dame, die sucht ... Ich kann hier nichts finden, ich weiß nicht, wo der Meier die Komplettliste hat, ich hab ja gleich gesagt, das ist Unfug mit dieser Vertretung, da können wir doch besser gleich die Abteilung zumachen für heute.«

Nur das nicht. Aber immerhin, kleiner Triumph, mein weiblicher Instinkt hat mich nicht getäuscht, er gehört gar nicht hierher. Es war im Plan nicht vorgesehen, dass ich ihm begegne, hab ich doch gleich gewusst. Meine Leute sehen anders aus.

Aber während ich immerhin dieses wusste, weiß der Angerufene offensichtlich nichts, auch gar nichts. Das kann doch nicht wahr sein. Ohne den Fön noch mal anzulächeln – was drängelt er sich auch in meine Geschichte – rausche ich nun doch aus dem Raum.

Jetzt bleibt mir nichts anderes übrig, ich gehe wieder da runter. Dorthin, wo die Leute vor dem Verhandlungsraum standen. Hoffentlich stehen sie noch immer da. Also rein in den Fahrstuhl. Komisch, der riecht gar nicht so muffig wie vorhin. Ist das nicht der Gleiche? Nein, natürlich nicht. Warum denn auch, es hat ja bis jetzt nichts geklappt, also warum sollte sich ausgerechnet in diesem Moment das Blatt wenden? Als sich im Erdgeschoss die Fahrstuhltür leise zur Seite schiebt, traue ich meinen Augen nicht. Ich stehe in einer runden Halle, weiße Wände, große Fenster, modernistische Kunst und offensichtlich unbequeme Schalensessel. Was ist das? Habe ich vorhin das Gebäude etwa durch den Hintereingang betreten? Bei diesem Anblick verliere ich den letzten Rest von Hoffnung, der mir noch geblieben war. Ich schaff es einfach nicht. Noch ein halbherziger Versuch, Langmann auf seinem Handy zu erreichen, natürlich nichts. Inzwischen ist es fast eins, jetzt kann ich auch wieder gehen. Völlig kraftlos verlasse ich das Gebäude. Immerhin durch den Haupteingang. Zurück zum Bahnhof, eigentlich wollte ich erst in vier Stunden fahren, aber es wird ja auch vorher einen Zug geben, der mich in meine sichere, überschaubare Großstadt zurückfährt.

Nun hab ich Zeit, vom Weihnachtsmarkt riecht es nach gebratenen Würstchen und gebrannten Mandeln, ich leiste mir beides, und schon geht es mir wieder besser. Gar nicht so schlecht hier in Westfalen. Ich lasse mich treiben, erstehe erst einen Kerzenständer für meine Mutter, dann eine alte Ausgabe von Kleists Erdeben von Chile für meinen Liebsten, für mein Kind ein Poster mit Anakin Skywalker, für meine Freundin eine Auswahl exotischer Gewürze, fürs Abendessen eine Wurst, für meinen Vater einen Pfeifenhalter – Weihnachten kann kommen, noch niemals hatte ich so früh so viele Geschenke beisammen. Fast vergesse ich über diesem Glück mein kleines Malheur.

Doch als ich so völlig beladen am Bahnhof ankomme, geht mir auf, dass ich immer noch ein Problem habe. Das muss ich jetzt in den Griff kriegen, sonst mache ich mich völlig lächerlich. Also los, Päckchen, Beutel, Tüte abgestellt, noch mal ans Telefon. Jetzt erwische ich meinen Delinquenten, Langmann hat das Handy angeschaltet, er sitzt im Auto, ist auf der Heimfahrt, ich kann ihn kaum verstehen.

»Gut, dass ich Sie endlich erwische«, sage ich, so sicher ich kann. »Auf diese blöde Bahn ist kein Verlass, wir hatten anderthalb Stunden Verspätung.«

Glaubwürdig? Es rauscht in der Leitung. Dann höre ich ihn wieder, kann aber kaum etwas verstehen. Schnell bin ich wieder am Zuge:

»Ich rufe Sie morgen wieder an, ich melde mich auf jeden Fall bei Ihnen. Sie müssen nicht versuchen, mich zu erreichen, ich bin oft im Haus unterwegs, selten an meinem Platz.«

Er kauft mir das alles ab, wir bedauern noch mal die vergebliche Mühe und ich melde mich auf jeden Fall bei ihm. Geschafft. Jetzt noch die Redaktionskonferenz mit Anstand überstehen, dann wäre das – bei Lichte besehen – gar kein so schlechter Tag gewesen. Finde ich, als ich meine Tasche, Päckchen, Tüte wieder zusammenraffel und mich in den nächsten Zug fallen lasse.

Und wie wars? Hm, gut, brummel ich. Das reicht, mehr will keiner wissen, hätte ich Erzählenswertes erlebt, wäre es schwer, das hier an den Mann zu bringen. Also setze ich mich hin und schreibe. Wie der Streit entstanden war, wer geklagt hatte, wie es ausging. Das meiste wusste ich ja schon. Zweimal rufe ich Langmann noch an, gegen Mittag, wenn sonst keiner in der Redaktion ist. Auf Sätze wie: »Da richtet sich der Angeklagte erschrocken auf...«, muss ich leider verzichten, aber durch die Telefonate habe ich ne ganze Menge O-Ton, ich zitiere Langmann recht heftig – lasst Leute sprechen, das macht Geschichten lebendig. Und alle lesen das, was sie lesen wollen. Für Langmann liest sich die Story nicht so, als gäbe ich vor, dabei gewesen zu sein, die anderen haben das Gefühl, den erwarteten Livebericht zu bekommen.

Am nächsten Montag kriege ich Lob von allen Seiten. Der Verleger sagt, ich sollte öfter auf Reportagefahrt, denn diese menschliche Note in meinem Bericht – so könne nur eine Frau schreiben – täte dem Blatt wohl. Die Kollegen stört das nicht weiter, so lange ihre fachliche Kompetenz nicht angetastet wird. Und meine Tochter freut sich über die schicken Geschenke, die ich allmonatlich nach Hause bringe, von meinen Reisen, auf denen ich stets mehr sehe als Flughafen und Konferenzraum.

Copyright © 2007 Dani Linde