Ein Morgen

Die Bettdecke gibt einen Arm frei, die Hand fällt nach unten, dann streichen die Fingerspitzen leicht über den Boden, stoßen auf den Widerstand des Weckergehäuses. Mit leichtem Schwung aus dem Gelenk hebt sich die Hand, gibt dem vibrierenden Kästchen einen leichten Schlag. Ruhe.

Sofort schläft er wieder ein. Nur für zehn Minuten, wie er später feststellt. In diesen zehn Minuten spürt er K. neben sich gehen, weiß, sie würden sich gleich küssen, ahnt aber noch nicht, wie er es anfangen könnte, sie zu berühren. Er spürt die Spannung seines Körpers, aufrechte Haltung, Kribbeln in den Fingerspitzen. Wahrscheinlich würde er mit den Fingern wie zufällig ihren Handrücken streifen, aus den Augenwinkeln beobachten, wie sie reagiert. Dieses Aufleuchten, wenn ihre Blicke sich treffen. Als er die Augen wieder öffnet, weiß er, es ist Zeit, aufzustehen.

Er streckt sich, schaut zur Decke, auf der vor Monaten eine Regennacht die Umrisse eines ihm unbekannten Landes markiert hatte. Anfangs glaubte er, es sei die Karte von Brasilien, die sich dort in vorsichtigem Braun abzeichnete. Aber in den Abendnachrichten hatte er gesehen, dass seine Erinnerung ihn täuschte. Auch waren an zwei Stellen Putzflecken von der Decke gefallen, das mussten große Seen sein oder vielleicht Berge.

Am vergangenen Sonntag war er auf den Boden gestiegen. Der Staub tanzte im Sonnenstreifen, den die schmale Luke hereinließ und wie er vermutet hatte, fand er den alten Atlas. In der Küche hatte er den Staub vom Einband gewischt, sich eine Tasse Kaffe gekocht und die Zigaretten hervorgeholt. Noch immer hatte er nicht gelernt, den Rauch wieder ruhig auszuatmen, so dass er meist das linke Auge zukneifen musste, wenn die leichten Wölkchen an seinem Gesicht vorbeistrichen.

Er schlug die Karte im Mittelteil auf, Südamerika. Der Zeigefinger seiner linken Hand folgt den Grenzverläufen. Nein, die Linien, die seine Augen jetzt morgens und abends nachzeichneten, fand er nicht wieder. Bei einer zweiten und dritten Zigarette tastete er auch noch die afrikanischen Staaten und verschiedene Inseln ab. Es blieb dabei, an seiner Zimmerdecke war terra incognita erschienen.

Der Gedanke beschäftigte ihn, denn seit seiner Kindheit hatte er gehört, es sei alles schon entdeckt. Deshalb war er auch niemals auf Reisen gegangen. Wozu die Blicke festmachen an Dingen, über die schon tausend Augenpaare hingeglitten waren, die sich demnächst auflösen würden unter der ewigen Wiederholung verständnisloser Blicke.

Jetzt liegt der Atlas auf dem Brotschrank. Wieder kocht das Wasser, er kneift das linke Auge zu, dennoch stiehlt sich eine Träne in den Augenwinkel, als er die Zigarette ausdrückt. Mit Sorgfalt legt er Käsestreifen auf das Brot, teilt die Scheibe mit einem energischen Schnitt und freut sich, als er sieht, dass beide Teile genau übereinander passen.

Gegen elf Uhr wird er sich bücken und aus der Tasche, die er morgens unter dem Schreibtisch verstaut, das Brot hervorholen. Das Papier über dem Papierkorb von den Krümeln befreien. Heute würden es nicht so viele sein, denn die Verkäuferin im kleinen Eckladen hatte ihm gestern das helle Brot in den Korb gelegt, das er nicht so gern mochte. Sie hatte gesagt, es sei im Angebot, was wohl hieß, billiger als sonst. Wenigstens würde es nicht krümeln. Das Papier faltet er dann zu einem kleinen Rechteck und übergibt es wieder der Tasche. Seine Kollegen lästerten hin und wieder über diese Sparsamkeit, aber es war ein gutmütiger Spott und er tat es nicht, um zu sparen, sondern aus Gewohnheit.

Warm würde es heute werden, also sucht er unten im Kleiderschrank zwischen den Schuhen nach den Sandalen, die er schon vor einigen Wochen gekauft hatte, wie er es in jedem Jahr zu Beginn des Sommers tat. Sie passen, er richtet sich auf, greift nach dem Schlüsselbund und verlässt das Haus.

Copyright © 2007 Dani Linde