Spiegel-Kind

Ich mag Mutters Haare. Sie sind lang, ein bisschen lockig. Im Sommer werden sie von der Sonne ganz hell. Sie glänzen und wenn sie sie mal offen trägt, duften sie und wehen um ihr Gesicht. Das finde ich schön.

Mutter hat viele Spangen und Kämmchen, damit kann sie ihre Haare zu ganz verschiedenen Frisuren stecken. Das macht sie meist, dann darf ich sie nicht anfassen. Manchmal schaue ich zu, wenn sie sich frisiert, aber das mag sie nicht besonders.

»Du machst mich ganz nervös«, sagt sie.

Meine Haare sind dünn und fransig. Cordula hatte Mutters Haare – das sieht man auch auf den Fotos. Manchmal schau ich sie mir an, Mutter hat ihr oft Zöpfe geflochten. Auch Cordulas Kleider sind sehr schön. Die trage ich jetzt. Nur mir stehen sie nicht so gut. Eigentlich trägt kein Mädchen mehr solche Kleider. Und ich bin zu groß und dünn dafür. Bohnenstange.

Deshalb stehe bei den Ballettaufführungen auch immer in der hinteren Reihe. Auch wenn ich mir noch so viel Mühe gebe, ich glaube nicht, daß mir Frau Berner auch mal eine Solo-Rolle gibt. Frau Berner weiß gar nicht, dass Cordula nicht mein richtiger Name ist, ich heiße Corinna. Aber außer meinen Eltern und mir weiß das niemand. Braucht auch keiner zu wissen. Ist unser Geheimnis.

Vater hat Mutter heute so einen dreiteiligen Klappspiegel mitgebracht und im Bad aufgehängt.

»Damit sich mein Goldstück für mich immer schön machen kann«, meinte er. Den alten Spiegel hängte er an die Wand gegenüber.

Wenn man sich zwischen die beiden Spiegel stellt und die beweglichen Teile von dem Klappspiegel richtig dreht, sieht man sich ganz oft, von allen Seiten, wirklich alles. Da gibt es mich vielleicht hundertmal oder so.

Ich hab mich genau angesehen. Meine Augen sind grün. Ganz verwaschen, hat Vater mal gesagt. Nicht so blau wie die von Mutter und Cordula. Dazu die Knubbelnase. Aber ich konnte gar nicht aufhören zu schauen in meine Augen, so oft waren sie da und immer weiter weg. Corinna, Corinna, Cordula, Corinna. Ganz fremd. Nur noch meine Gedanken. Weggehen. In ein fremdes Land, wo niemand mich kennt. Corinna, Cordula.

Morgen ist Cordulas Geburtstag. Ich hab eigentlich im Mai. Aber das feiern wir nicht. Geschenke und einen Kuchen gibt es immer an Cordulas Geburtstag. Morgen werd ich neun. Kurz nach ihrem neunten Geburtstag ist Cordula gestorben. Jetzt wäre sie schon neunzehn. Aber darüber reden wir nicht. Manchmal schauen sich Vater und Mutter die alten Fotos an.

»Sie wird immer meine kleine Prinzessin bleiben«, sagte Vater.

Mich hat er damit nicht gemeint.

Als er vorhin mit dem Spiegel in dem großen Karton heimkam, dachte ich zuerst, es ist vielleicht das Geburtstagsgeschenk für mich. Dabei bekomme ich morgen Ballettschuhe. Ich habe bis jetzt immer das bekommen, was sie auch Cordula zu ihrem Geburtstag geschenkt haben. Was wird im nächsten Jahr sein?

Und im Spiegel das Gesicht, Gesicht, Gesicht. Ich bin schon ganz weit weg. Ich möchte hineingehen in den Spiegel. Noch einen Schritt und noch einen. Bis ich mich selbst nur noch ganz klein sehe. Meine zotteligen Haare nicht mehr zu erkennen sind, die Augenfarbe schon lange nicht mehr und vielleicht auch nicht, dass das Kleid zu kurz ist. Eine Träne rollt über das Spiegelgesicht, zehn, hundert, tausend Tränen, ein Meer, in dem ich davonschwimme unter dem weiten Himmel. Mutter und Vater stehen am Ufer und rufen. Rufen sie Cordula oder Corinna? Ich kann sie nicht verstehen. Egal, was sie rufen. Ich kehre nicht um, ich schwimme.

Copyright © 2007 Dani Linde