Die Zeit läuft

Die Zeit läuft uns davon, wir planen, arrangieren, organisieren. Die Kinder wachsen uns – langsam, aber unaufhaltsam – über den Kopf, leben mehr und mehr ihr eigenes Leben. Bald werden sie auch noch die Ferien mit ihren Freunden verbringen und gern auf unsere Gesellschaft verzichten. Die Kinder mögen so weit sein, aber ich bin es noch lange nicht.

»Wetten, dass mir was Cooles einfällt!« Ich kenne dieses Funkeln in Burkhardts Augen. Und es gefällt mir. Einmal noch, bitte, lasst uns noch diesen Sommer zusammen verbringen. Über den nächsten reden wir später.

Und Burkhardt fällt noch einmal etwas ein: »He, mit dem Kanu. Ein Boot für euch, eins für uns. Und unsere Sachen nehmen wir in einer Regentonne mit.«

André jubelt. Bella will wissen: »Machen wir dann abends bei den Zelten ein ein Lagerfeuer?«

»Die Fahrt mit dem Kanu wird ihr Gefühl für Zeit verändern. Keine Hektik, nichts, das ihren Blicken entgeht. Entdecken Sie die Langsamkeit.« Ich lese den Prospekt und falle meinem Liebsten um den Hals.

Pause. Ich atme, liege im Schatten und atme, ein wenig zittern mir die Knie, das Blut pulst in den Schläfen. Ich bin erschöpft, immerhin sind wir schon den dritten Tag unterwegs, die Schultern schmerzen, die Hände brennen. Doch das Wasser, das wir uns aus großen Flaschen gegenseitig in den Nacken gegossen haben, kühlt mich ab, und jetzt strömt mit jedem Atemzug ein wenig von der großen Ruhe in mich hinein. Wie still es hier ist.

So still, dass ich mir einbilde, die Sonne zu hören, leise knisternd geht sie über uns hinweg. Ich drehe mich auf den Bauch. Lege den Kopf auf meine Arme, rieche das Salz vermischt mit einem Hauch von Sonnencreme, mich. Vertraut, sehr vertraut. Meine Gedanken treiben.

Ich erinnere mich an den Geruch meines Sohnes in seinem ersten Jahr. Großmutters Blaubeerkuchen. Burkhardts Hände. Bellas Lachen, glockenhell. Das Gold der Sonne auf dem Neckar, hundertfach gebrochen, mit jeder neuen Welle aufs Neue gespielt. Das entspannte Vorantreiben der Boote im gleichmäßigen Schlag unserer Paddel.

Ein sanftes Schlagen der Wellen gegen die Kanus – da nähert sich wohl ein Schiff; Rascheln und Knacken – die Kinder sind wieder erwacht; Burkhardts Stimme: »Nur noch anderthalb Kilometer bis zur Schleuse.« Allmählich tauche ich wieder auf, doch ich zögere es hinaus, will noch nicht loslassen. Hier auf dieser Wiese am Fluss, weit weg von zu Hause, gebadet in Licht und Duft und Stille, fühle ich mich für Augenblicke völlig geborgen. Nichts fehlt.

»Wo sind eigentlich die Kinder?« Burkhardt steht plötzlich neben mir. Das Körbchen in seiner Hand ist voller Brombeeren, auch meins ist gut gefüllt – an diesem sonnigen Hang habe ich alles um mich herum vergessen.

»Waren sie nicht bei dir?«

Burkhardt schüttelt den Kopf. »Sie haben nicht lange gepflückt, sind dann den Hang hochgeklettert. Ich dachte, sie wären in deiner Nähe.«

Schweiß läuft mir den Rücken hinab, plötzlich spüre ich die Kratzer, die die Brombeeren in meine Beine und Arme ritzten. Bestimmt ist eine Viertelstunde vergangen, oder mehr, seit ich sie zuletzt gehört habe. Können sie sich hier verlaufen haben? Bella ist elf, André zwölf - sie sind selbstständig, vernünftig und sicher. Meistens. In vertrauter Umgebung. Mein Atem wird kürzer, die Gedanken rasen.

»Bleib ruhig«, Burkhardts Hand auf meinem Arm holt mich zurück.

Ich schließe die Augen, atme kräftig aus und kann wieder denken: »Ich sehe bei den Kanus nach, und du kletterst den Hang hoch und läufst bis zur Straße.«

Er drückt mir sein Brombeer-Körbchen in die Hand und kämpft sich an den dornigen Sträuchern vorbei. Ich suche den Pfad, auf dem wir herkamen.

»Bellaaaa! Andréeee!« Als Antwort nur Stille. Ich haste durch das Wäldchen, verfluche unseren Leichtsinn, stolpere über eine Wurzel und verliere die Brombeeren. Egal.

Wie weit wir uns von den Booten entfernt haben. Endlich, das dumpfe Dröhnen eines großen Schiffes, das Glitzern des Flusses zwischen den Bäumen.

Nein. Nur noch ein Boot liegt da. Das andere ist fort, Bellas Jacke und ein Paddel liegen noch am Ufer. Was soll das?

»Burkhardt. Bellaaaa! Andréeee!«

Keine Antwort. Ich laufe zu unserem Boot, wate bis zu den Knien in den Fluss, doch der macht hundert Meter voraus eine Biegung, ich sehe niemanden auf dem Wasser, auch stromauf - nichts. Ganz entfernt schiebt sich ein Kohlenschlepper in meine Richtung. Mit zitternden Beinen drehe mich um, auf unsicherem Grund kämpfe ich mich ans Ufer zurück und falle neben unser Kanu. Schluchzen steigt auf, schüttelt mich. Nein. Ruhig bleiben. Jetzt ruhig bleiben. Burkhardt muss jeden Augenblick hier sein. Jetzt nicht panisch werden.

Ich mache unser Kanu startklar.

Das Pochen in meinem Kopf wird stärker. Erst saß es in meinem Hals, jetzt trommelt es an die Schläfen. Das Blut rauscht in meinen Ohren. Mit der Zunge wische ich den Schweiß, der mir auf die Oberlippe rinnt. Dieses Wasser, es quillt aus allen Poren, es hört nicht auf. Hinter mir höre ich Burkhardt keuchen, doch gleichmäßig und ohne Pausen teilt sein Paddel das Wasser. Und jetzt, und jetzt, und bloß jetzt nicht schlapp machen. Keine Spur von unseren Kindern, keine Spur ihres Kanus.

Auch Burkhardts Suche war erfolglos geblieben. »Du wirst sehen, sie sind losgefahren und warten hinter der Schleuse auf uns«, er hatte versucht, mich zu beruhigen.

Alles nur ein Scherz? Doch das Paddel?

Unser Kanu tanzt – bergauf, bergab - im Kielwasser des Motorschiffs. Wenn es lange vor uns die Schleuse erreicht, werden wir sehen müssen, wie die Tore sich schließen. Dann werden wir unser Boot auf einen Wagen hieven und auf Schienen über Land ziehen, ziehen und zerren, hunderte Meter - kostbare Zeit wird vergehen. Wo sind die Kinder?

Dann schon lieber das hier: und jetzt, und jetzt. Wir setzen Schlag um Schlag. Die Hände brennen. Jeder Muskel in meinem Körper kocht. Wasser steigt mir in die Augen. Das Kanu schiebt sich weiter und weiter. Ich fahre zusammen, denn unerwartet tönt eine Stimme über den Fluss:

»Das Kanu kann in die Schleuse einfahren. Das Kanu kann in die Schleuse einfahren!« Geschafft, wenigstens das geschafft. Der Schleusenwärter hat uns gesehen.

Für einen Moment schließe ich die Augen, doch das Rauschen in meinem Kopf wird so groß, dass es mich erschreckt. Durchhalten, noch hundert Meter. Wir geben dem Boot noch einmal Schwung und gleiten hinein in den modrigen Schlund. Hinter uns schieben sich - beinahe lautlos - die dunklen Stahlwände zusammen. Durch den schmaler werdenden Spalt strömt und sprudelt das Wasser, so heftig, als wolle der ganze Fluss mit uns reisen.

Ich versuche, unser Boot an einer eisernen Leiter an der Mauer festzumachen. Doch das Innere dieser Schleuse ist wohl der einzige Ort, den die brennende Sonne heute nicht erreicht hat. Mich fröstelt, das Tau ist feucht und steif, die Schlaufe, die uns bei sinkendem Wasser an der Leiter halten soll, löst sich wieder. Vor uns schiebt sich das Tor auseinander, das Wasser strömt und strömt. Der Kohlenschlepper lässt schon wieder seinen Motor an. Die Schiffsschraube dreht - noch langsam. Der Sog lässt unser Kanu tanzen. Das Tau, das uns halten sollte, fällt klatschend ins Wasser. Was bleibt mir übrig, ich greife nach einer Eisenstrebe, grün bemoost, stinkend, beinahe rutsche ich ab, wieder strudelt das Kanu, doch das Wasser sinkt, die nächste Stufe steigt aus dem Wasser, hastig greife ich danach, und weiter und weiter. Das Tor öffnet sich zum Strom, das große schwarze Schiff stampft davon, wir bleiben schaukelnd zurück. Schwitzend, frierend.

Am Ufer stehen unsere Kinder, hüpfen und winken. Burkhardt stöhnt wie ein geschundenes Tier. Endlich erreichen wir das Ufer. Nur keuchend kann ich fragen: »Was habt ihr euch nur dabei gedacht?«

»Es war eine Wette!« Sie hatten gewettet, wer schneller an der Schleuse wäre: Bella zu Fuß oder André mit dem Kanu? Bella war getrampt, André hatte sich von einem Motorboot mitziehen lassen.

Ich falle ins Gras. In meinem Kopf tanzen Wasser, Sonne und blauer Himmel einen wilden Tanz.

Copyright © 2007 Dani Linde